Wie ist es für ein Tech Unternehmen zu arbeiten? Und was genau ist anders in der Firmenkultur? Ein persönlicher Erfahrungsbericht über eine Entwicklungsreise, Mut, Verantwortung und lebendige Organisationen.
1999, Intel®, ICQ und 14k Modems
Eine Zeitreise in das Jahr 1999: in der Technologiephase von ICQ und 14k Modems, begann ich mein zweites Pflichtpraktikum bei der Firma Intel® in Feldkirchen bei München. Ich sollte im Technical Marketing unterstützen, das den damals neu erschienen Pentium® III Prozessor promotete. Um Nutzern die Leistungsfähigkeit des neuen Prozessors zu zeigen, gab es den sogenannten Intel® WebOutfitterSM Service1, in Form eines Softwareprogramms, das man installieren und darüber spezielle Funktionalitäten wie z.B. eine 3D-Suche nutzen konnte. Die Software wurde Kunden mittels einer CD-ROM zur Verfügung gestellt. Meine Aufgabe war es, mich mit der Software vertraut zu machen und in anderen Intel® Niederlassungen Trainings durchzuführen. Ehrlicherweise hatte ich mich gerade wegen der vielen Geschäftsreisen für dieses Praktikum entschieden. Vom ersten Tag an stellte ich mir vor, wie es wäre im gesamten Gebiet von EMEA (Europe, Middle-East & Africa) herumzureisen.
Aller Anfang ist schwer
Meine erste Aufgabe bestand darin, meinen Rechner zu konfigurieren, damit ich mich in die Software für alle nötigen Betriebssysteme einarbeiten konnte. In diesem Fall waren es zwei Partitionen, jeweils für Linux und Windows. Gesagt, getan, die Aufgabe war bald erledigt. Ich beschäftigte mich ausführlich mit dem Programm auf beiden Umgebungen und las mich in die Dokumentation ein. Nach ein paar Tagen fragte ich meinen Ansprechpartner, wie es denn nun weiterginge, wie und wann ich jetzt die Trainings und entsprechenden Reisen planen solle. Mein Praktikumsbetreuer antwortete etwas mürrisch, ich solle meinen Rechner zu Trainingszwecken noch einmal neu aufsetzen und das mit den Trainings solle ich lieber seine Sorge sein lassen. Die etwas harsche Aussage war so deutlich, dass ich mir nicht nachfragen traute und für die nächsten Tage tat, was er mir aufgetragen hatte. Wenige Tage später fragte ich ihn jedoch wieder, wie es denn jetzt weiterginge. Er reagierte wieder mürrisch und meinte, wir können ja mal nach Salzburg fahren und die Produktionsstätte der CD-ROM kennenlernen. Dies taten wir auch, jedoch meine Hoffnung auf eine spannende Trainingstätigkeit an vielen unterschiedlichen Orten in EMEA sah ich schon in weite Ferne rücken. Ich war damals viel zu jung, um einschätzen zu können, ob und was da nicht stimmte. Zwischenzeitlich waren schon 4 Wochen ins Land gegangen.
Die wegweisende Begegnung
Ein paar Tage später sprach ich mit der Personalabteilung, mein Praktikum würde nicht so verlaufen wie geplant, ich hätte kaum was zu tun und fragte nach, was man tun könnte. Meine Ansprechpartnerin erschrak etwas und vermittelte mich an einen anderen Teamleiter mit dem ich nur kurze Zeit später einen Interviewtermin hatte. Dieses Gespräch hat meinen weiteren Lebenslauf mehr geprägt, als ich es mir je hätte vorstellen können. Er fragte mich als erstes, warum ich meine aktuelle Stelle verlassen wolle. Ich antwortete wahrheitsgemäß, dass ich nichts zu tun hätte, mir langweilig sei und ich mich dort engagieren möchte, wo meine Arbeit gebraucht würde. Er antwortete, ich könne gerne zu ihm wechseln, er hat sehr viel zu tun. Jedoch, bevor ich das täte, würde er von mir folgendes erwarten: Wenn ich alle Möglichkeiten mit meinem aktuellen Ansprechpartner ausgereizt hätte, dann soll ich mit seinem Vorgesetzten sprechen und sehen was passiert und danach mit dem nächsthöheren Vorgesetzten und danach mit dem nächsthöheren Vorgesetzten und das soll ich so lange machen, bis ich ganz oben angekommen bin. Wenn dann immer noch niemanden gefunden hätte, der mir hilft und etwas ändert, dann würde er an meiner Stelle kündigen und sich eine andere Stelle zu suchen. Er sagte: „Du bist gut ausgebildet, Du weißt, was Du willst, verschwende nicht Deine Lebenszeit mit unklaren Aufgaben, die niemals zu Erfolg führen können.“ Etwas benommen verließ ich den Besprechungsraum mit der festen Überzeugung niemals den Mut für diesen Weg aufbringen zu können.
“Courage calls to courage.” Millicent Garrett Fawcett
Dennoch arbeitete die Botschaft in mir. Ich schlief ein paar Nächte unruhig. Langsam wurde mir immer klarer: ich musste etwas tun. Ich wollte nicht noch vier Monate in diesem Zustand verbringen. Ein paar Tage später nahm ich all meinen Mut zusammen und frage den Teamleiter, ob ich mit ihm sprechen könne. Ich berichtete ihm von meiner Situation und er meinte, das wäre ja unmöglich, alle hätten viel Arbeit, er würde sich kümmern und mir in den nächsten Tagen Bescheid sagen.
Was passierte?
Nichts.
Ich schlief wieder ein paar Nächte unruhig, aber jetzt konnte ich nicht mehr zurück. Es fühlte sich an als wäre ich eine Schwerverbrecherin und würde als Praktikantin die gesamte Niederlassung herausfordern. Also nahm ich wieder all meinen Mut zusammen und frage die nächsthöhere Führungskraft, ob ich mit ihm sprechen könne. Ich berichtete auch ihm von meiner Situation, er meinte, das wäre ja unmöglich, alle hätten viel Arbeit, er würde sich kümmern und mir in den nächsten Tagen Bescheid sagen.
Was passierte?
Nichts.
Der Ball rollt unaufhaltsam
Ein paar Tage später sprach ich die Assistentin des nächsthöheren Vorgesetzten an, ich hatte damals kein Gefühl für Hierarchien und weiß heute auch nicht mehr, um welche Führungsebene es sich handelte. Seine Assistentin sah mich von oben bis unten an und fragte was ich von ihr wolle. Ich berichtete kurz zu meiner Situation und dass ich einen Termin wolle. Sie meinte, das wäre unmöglich, er hätte einen sehr vollen Kalender und könne sich um solche Probleme nicht kümmern. Außerdem müsse er in wenigen Stunden zum Flughafen, um nach UK zu fliegen. Enttäuscht drehte ich mich um, als ich ihn jedoch am Kopierer stehen sah, dachte ich jetzt oder nie. Ich ging auf ihn zu, berichtete kurz von meiner Situation. Er hörte ruhig zu, sagte er hätte keine Zeit, aber ich könne ihn zum Mittagessen begleiten, das wäre möglich.
Der Durchbruch
So berichtete ich ihm etwas ausführlicher von meiner Situation und dass ich einfach nur eine richtige Aufgabe haben möchte, ob er hier Rat wüsste. Er schaute mich ungläubig an, dann fragte er mich, wie lange ich noch studiere und ob es mir bei Intel® grundsätzlich gefallen würde. Nach einem kurzen Gespräch über mein Studium und Berufsvorstellungen, sagte er mir: wenn ich mit dem Studium fertig sei, soll ich mich bei ihm melden, denn genau solche Leute würde er brauchen. Für die aktuelle Situation sieht er was er machen kann, er könne mir jedoch so kurzfristig nichts versprechen. Er würde gerade ein Team in UK zusammenstellen, eventuell könnte ich dort unterstützen. Ich bin bis heute diesem Teamleiter aus tiefstem Herzen dankbar für seine Standpauke und seinen Rat, das Problem soweit über die Hierarchie zu adressieren, bis sich meine Situation änderte. Auch bin ich als Mensch während dieser Wochen sehr gewachsen. Tief in uns ist die Angst von einer Gruppe ausgeschlossen zu werden, wenn wir uns aufrichten und für das Einstehen was wir für richtig halten. Wenn wir dieser Angst folgen, wachsen wir nicht als Menschen und einer Organisation, die nicht herausgefordert wird, fehlen wichtige und wertvolle Wachstumsimpulse.
War dieser Weg angenehm?
Nein.
Würde ich es wieder tun?
Jederzeit.
Erst rückblickend und nach vielen agilen Tranistionsprojekten verstehe ich, wie weitreichend die Auswirkungen einer gelebten Unternehmenskultur sein können. Auch denke ich heute, ein ehrlicher Umgang mit Problemen und ein sachlicher und aufrichtiger Diskurs, unabhängig von Hierarchieebenen ist ein Schlüsselfaktor für die Gesundheit, Leistungsfähigkeit und damit Erfolg einer Organisation.
Bei Amazon heißt dieser Kulturwert „Have backone, disagree, but commit.”1 Wenn Du glaubst, Du kennst eine Lösung, die langfristige Kundenzufriedenheit und damit Existenzsicherung für das Unternehmen sicherstellt, dann stehe auf und für Deine Meinung ein. Natürlich sollte die Argumentation schlüssig, gut hergeleitet und durch so viele Fakten wie möglich belegt sein. Eine einfache Beschwerde, eine private Meinung und ohne soliden Lösungsvorschlag reicht nicht.
"Change before you have to" Jack Welch.
Für seine Meinung einzustehen, bedeutet auch, Verantwortung für sich selbst zu übernehmen und den Lösungsvorschlag umsetzen zu wollen. Wenn jemand Zeuge einer ungünstigen Situation wird und eine Lösung sieht, egal wie klein oder groß, ist er automatisch auch verantwortlich dafür. Der Satz „Das liegt nicht in meinem Verantwortungsbereich.“ stammt noch aus dem Industriezeitalter und ist mittlerweile überholt. Ohne das bewusste Hinsehen, in-Frage-stellen und Agieren von jedem einzelnen Mitarbeiter sind Unternehmen als Organisation zu starr und nicht mehr lange wettbewerbsfähig. Die Technologiebranche ist bedingt durch die verhältnismäßig jungen Organisationen nur Vorreiter dieser Bewegung. Agile Methoden, die eine Projektmanagementmethode durch eine andere austauschen ändern kaum etwas an dem tiefer liegenden Problem: einer zu starren und wenig lebendigen Firmenkultur, die Sicht auf Menschen als ausführende Roboter. Dabei ist jeder Einzelne gefragt, unabhängig von Funktion oder Hierarchieebene. Der übliche Ruf, Führungskräfte sollen dies als erstes vorleben hört sich eher an nach Verantwortungsvermeidung als nach einem konkreten Veränderungswunsch. Als Faustregel gilt: wenn nach der Einführung agiler Methoden sich nicht mindestens der Slogan von Scrum erfüllt („The Art of Doing Twice the Work in Half the Time.“) ist eine Organisation kaum agiler, kundenzentrierter und wettbewerbsfähiger geworden. Irgendwann wird sich ein junges Technologieunternehmen auf dem Markt etablieren, das um Potenzen besser ist.
Quellenangaben:
1https://www.Intel®.com/pressroom/archive/releases/1999/Cn081799.htm
2https://www.youtube.com/watch?v=9ZRKAC65Ua4&ab_channel=InsideAmazonVideos
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